25. Abhängigkeit der Lösungen von den Daten


 

25.1 Das Gronwallsche Lemma

 

25.1.1 Problemstellung

 

Betrachte wieder das Rechteck \[ R:=\{(x,y)\in\mathbb R^2\,:\,|x-\xi|\lt a,\ |y-\eta|\lt b\} \] und darauf eine beschränkte und stetige Funktion \[ f(x,y,\lambda_1,\ldots,\lambda_p)\colon R\times\Lambda\longrightarrow\mathbb R \] mit einem Parameterbereich \( \Lambda\subseteq\mathbb R^p, \) \( p\in\mathbb N\cup\{0\}. \) Von der zweiten Variablen \( y\in\mathbb R \) fordern wir Lipschitzstetigkeit im folgenden Sinne \[ |f(x,y,\lambda)-f(x,z,\lambda)|\le L\cdot|y-z| \quad\mbox{für alle}\ (x,y,\lambda),(x,z,\lambda)\in\mathbb R^2\times\Lambda. \] Auf einem Intervall \( [\xi-h,\xi+h], \) worin \( h\in(0,a] \) hinreichend klein, betrachten wir nun stetig differenzierbare Lösungen der Anfangswertprobleme \[ \begin{array}{l} y\colon[\xi-h,\xi+h]\to[\eta-b,\eta+b],\quad y'=f(x,y,\lambda),\ y(\xi)=\eta, \\ \widetilde y\colon[\xi-h,\xi+h]\to[\widetilde\eta-b,\widetilde\eta+b],\quad \widetilde y'=f(x,\widetilde y,\widetilde \lambda),\ \widetilde y(\xi)=\widetilde\eta. \end{array} \] Es löst also \( \widetilde y(x) \) das Anfangswertproblem zu einem gestörten Anfangswert \( \widetilde\eta, \) und außerdem darf die rechte Seite von reellen Parametern \( \lambda_1,\ldots,\lambda_p \) abhängen. Unser Ziel ist die stetige Abhängigkeit der Lösung des Problems von diesen Daten zu beweisen. Dabei gehen wir erneut nach Sauvigny Lehrbuch zur Analysis vor.

 


 

 

25.1.2 Eine Integralungleichung

 

Zu diesem Zweck überführen wir zunächst die vorigen Anfangswertprobleme in die beiden äquivalenten Integralgleichungsprobleme \[ y(x)=\eta+\int\limits_\xi^xf(t,y(t),\lambda)\,dt,\quad \widetilde y(x)=\widetilde\eta+\int\limits_\xi^xf(t,\widetilde y(t),\widetilde\lambda)\,dt. \] Es folgt \[ \begin{array}{l} \displaystyle \big\{y(x)-\eta\big\}-\big\{\widetilde y(x)-\widetilde\eta\big\} \\ \qquad\displaystyle =\,\int\limits_\xi^x\big\{f(t,y(t),\lambda)-f(t,\widetilde y(t),\widetilde\lambda)\big\}\,dt \\ \qquad\displaystyle =\,\int\limits_\xi^x\big\{f(t,y(t),\lambda)-f(t,y(t),\widetilde\lambda)\big\}\,dt +\int\limits_\xi^x\big\{f(t,y(t),\widetilde\lambda)-f(t,\widetilde y(t),\widetilde\lambda)\big\}\,dt. \end{array} \] Die geforderte Lipschitzstetigkeit der rechten Seite \( f \) liefert mit der Dreiecksungleichung \[ \begin{array}{l} \big|\big\{y(x)-\eta\big\}-\big\{\widetilde y(x)-\widetilde\eta\big\}\big| \\ \qquad\displaystyle \le\,\int\limits_\xi^x|f(t,y(t),\lambda)-f(t,y(t),\widetilde\lambda)|\,dt +\int\limits_\xi^x|f(t,y(t),\widetilde\lambda)-f(t,\widetilde y(t),\widetilde\lambda)|\,dt \\ \qquad\displaystyle \le\,\int\limits_\xi^x|f(t,y(t),\lambda)-f(t,y(t),\widetilde\lambda)|\,dt +\int\limits_\xi^xL|y(t)-\widetilde y(t)|\,dt \\ \qquad\displaystyle =\,\int\limits_\xi^x|f(t,y(t),\lambda)-f(t,y(t),\widetilde\lambda)|\,dt +\int\limits_\xi^xL|y(t)-\widetilde y(t)-\eta+\eta-\widetilde\eta+\widetilde\eta|\,dt \\ \qquad\displaystyle \le\,\int\limits_\xi^x|f(t,y(t),\lambda)-f(t,y(t),\widetilde\lambda)|\,dt +\int\limits_\xi^x\big\{L|y(t)-\widetilde y(t)-\eta+\widetilde\eta|+L|\eta-\widetilde\eta|\big\}\,dt. \end{array} \] Wir setzen nun \[ \begin{array}{l} \Phi(x):=\big|\big\{y(x)-\eta\big\}-\big\{\widetilde y(x)-\widetilde\eta\big\}\big|, \\ \varepsilon(\lambda,\widetilde\lambda):=|f(t,y(t),\lambda)-f(t,y(t),\widetilde\lambda)|, \\ \varepsilon(\eta,\widetilde\eta):=|\eta-\widetilde\eta| \end{array} \] und erhalten unter der Voraussetzung \( L\gt 0 \) \[ \begin{array}{lll} \Phi(x)\negthickspace & \le & \negthickspace\displaystyle \int\limits_\xi^x\big\{\varepsilon(\lambda,\widetilde\lambda)+L\varepsilon(\eta,\widetilde\eta)+L\Phi(t)\big\}\,dt \\ & = & \negthickspace\displaystyle L\cdot\int\limits_\xi^x\big\{\Phi(t)+\big[\varepsilon(\eta,\widetilde\eta)+L^{-1}\varepsilon(\lambda,\widetilde\lambda)\big]\big\}\,dt. \end{array} \] Wir gelangen auf diese Weise auf eine Integralungleichung der Form \[ \Phi(x)\le L\cdot\int\limits_\xi^x\big\{\Phi(x)+\varepsilon\big\}\,dt. \]

 


 

 

25.1.3 Das Gronwallsche Lemma

 

Satz: Die stetige Funktion \( \Phi\colon[\xi-h,\xi+h]\to[0,\infty) \) genüge der Integralungleichung \[ \Phi(x)\le L\cdot\int\limits_\xi^x\big\{\Phi(t)+\varepsilon\big\}\,dt \quad\mbox{für alle}\ x\in[\xi-h,\xi+h] \] mit reellen Konstanten \( L\gt 0 \) und \( \varepsilon\gt 0. \) Dann gilt \[ 0\le\Phi(x)\le\varepsilon\left(e^{L|x-\xi|}-1\right)=\varepsilon\sum_{k=1}^\infty\frac{L^k}{k!}\,|x-\xi|^k \] für alle \( x\in[\xi-h,\xi+h]. \)

 

Bemerkung: Im Falle einer Integralgleichung folgen \[ \Phi(\xi)=0,\quad \Phi'(x)=L\Phi(x)+L\varepsilon \quad\mbox{für alle}\ x\in[\xi-h,\xi+h]. \] Dieses Anfangswertproblem wird gelöst durch \[ \Phi(x)=\varepsilon\left(e^{L|x-\xi|}-1\right). \]

 

Beweis

 

Wir gehen in mehreren Schritten vor.
1. Unter Beachtung von \( \Phi(x)\ge 0 \) setzen wir zunächst
\[ M:=\max_{\xi-h\le x\le\xi+h}\Phi(x). \]
  Aus der Integralungleichung folgt dann
\[ \Phi(x) \le LM\int\limits_\xi^x\,dt+L\int\limits_\xi^x\varepsilon\,dt \le ML|x-\xi|+\varepsilon L|x-\xi|. \]
2. Mittel vollständiger Induktion zeigen wir
\[ \Phi(x)\le\varepsilon\sum_{k=1}^n\frac{L^k}{k!}\,|x-\xi|^k+\frac{ML^n}{n!}\,|x-\xi|^n \quad\mbox{für alle}\ x\in[\xi-h,\xi+h]. \]
  Den Fall \( n=1 \) haben wir im ersten Beweispunkt gerade gezeigt. Sei die Behauptung also für irgendein \( n\in\mathbb N \) richtig. Aus der vorausgesetzten Integralungleichung schließen wir mit der Induktionsannahme
\[ \begin{array}{lll} \Phi(x)\negthickspace & \le & \negthickspace\displaystyle \varepsilon L|x-\xi|+L\int\limits_\xi^x\Phi(t)\,dt \\ & \le & \negthickspace\displaystyle \varepsilon L|x-\xi|+L\int\limits_\xi^x\left\{\varepsilon\sum_{k=1}^n\frac{L^k}{k!}\,|t-\xi|^k+\frac{ML^n}{n!}\,|t-\xi|^n\right\}dt \\ & \le & \negthickspace\displaystyle \varepsilon L|x-\xi|+\varepsilon\sum_{k=1}^n\frac{L^{k+1}}{(k+1)!}\,|x-\xi|^{k+1}+\frac{ML^{n+1}}{(n+1)!}\,|x-\xi|^{n+1} \\ & = & \negthickspace\displaystyle \varepsilon\sum_{k=1}^{n+1}\frac{L^k}{k!}\,|x-\xi|^k+\frac{ML^{n+1}}{(n+1)!}\,|x-\xi|^{n+1}\,. \end{array} \]
  Das zeigt, bis auf kleinere Zwischenschritte, die Zwischenbehauptung.
3. Da aber nun nach einer Übungsaufgabe aus der Analysis 1 gilt
\[ \lim_{n\to\infty}\frac{ML^{n+1}}{(n+1)!}\,|x-\xi|^{n+1}=0, \]
  folgt nach Grenzübergang \( n\to\infty \) in voriger Ungleichung
\[ \Phi(x)\le\varepsilon\sum_{k=1}^\infty\frac{L^k}{k!}\,|x-\xi|^k=\varepsilon\left(e^{L|x-\xi|^k}-1\right). \] Damit ist alles gezeigt.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

25.1.4 Eine Stabilitätsungleichung

 

Wir wenden nun das Gronwallsche Lemma auf unsere Situation der gestörten Anfangswertprobleme an.

 

Satz: Die stetig differenzierbaren Funktion \( y(x) \) und \( \widetilde y(x) \) seien Lösung der parameterabhängigen Anfangswertprobleme \[ \begin{array}{l} y\colon[\xi-h,\xi+h]\longrightarrow[\eta-b,\eta+n],\quad y'=f(x,y,\lambda),\ y(\xi)=\eta, \\ \widetilde y\colon[\xi-h,\xi+h]\longrightarrow[\widetilde\eta-b,\widetilde\eta+n],\quad\widetilde y'=f(x,\widetilde y,\widetilde\lambda),\ \widetilde y(\xi)=\widetilde\eta. \end{array} \] Dann gilt die Stabilitätsungleichung \[ 0\le\Phi(x)\le\big\{\varepsilon(\eta,\widetilde\eta)+L^{-1}\varepsilon(\lambda,\widetilde\lambda)\big\}\left(e^{L|x-\xi|}-1\right) \] für alle \( x\in[\xi-h,\xi+h]. \)

 

Einen detaillierten Beweis dieses Satzes belassen wir als Übung.

 


 

 

25.1.5 Stetige Abhängigkeit von den Anfangsdaten

 

Abschließend wollen wir verschiedenen spezielle Fälle in der vorigen Stabilitätsungleichung diskutieren.

1. Im Fall \( \lambda=\widetilde\lambda, \) \( \eta=\widetilde\eta \) sind \( \varepsilon(\lambda,\widetilde\lambda)=0 \) und \( \varepsilon(\eta,\widetilde\eta)=0. \) Das bedeutet \( \Phi(x)=0 \) und damit

\[ y(x)=\widetilde y(x). \]

  Falls also das Anfangswertproblem eine Lösung besitzt, dann genau eine Lösung.
2. Im Fall \( \lambda=\widetilde\lambda \) ermitteln wir

\[ \begin{array}{l} \displaystyle 0\le\Phi(x)\le\varepsilon(\eta,\widetilde\eta)\left(e^{L|x-\xi|}-1\right) \quad\mbox{für alle}\ x\in[\xi-h,\xi+h] \\ \displaystyle \mbox{mit}\quad\varepsilon(\eta,\widetilde\eta)=|\eta-\widetilde\eta|. \end{array} \]

  Bei ungestörtem \( \lambda \) hängt also die Lösung \( y(x) \) des Anfangswertproblems stetig von \( \eta \) ab.
3. Im Fall \( \eta=\widetilde\eta \) ergibt sich

\[ \begin{array}{l} \displaystyle 0\le\Phi(x)\le L^{-1}\varepsilon(\lambda,\widetilde\lambda)\left(e^{L|x-\xi|}-1\right) \quad\mbox{für alle}\ x\in[\xi-h,\xi+h] \\ \displaystyle \mbox{mit}\quad\varepsilon(\lambda,\widetilde\lambda)=|f(t,y(t),\lambda)-f(t,y(t),\widetilde\lambda)|. \end{array} \]

  Bei ungestörtem \( \eta \) hängt also die Lösung \( y(x) \) des Anfangswertproblems stetig von \( \lambda \) ab.

 

Bemerkung: Das Gronwallsche Lemma liefert im Fall einer Lipschitzstetigen rechten Seite \( f(x,y) \) einen neuen Beweis der Eindeutigkeit der Lösung des Anfangswertproblems.

 

Beispiel: W. Walter in seinem Lehrbuch diskutiert zur Veranschaulichung das Anfangswertproblem \[ y'=10\left(y-\frac{x^2}{1+x^2}\right)+\frac{2x}{(1+x^2)^2}\,,\quad y(0)=\eta \] mit der Lösung \[ y(x)=\eta\cdot e^{10x}+\frac{x^2}{1+x^2}\,. \] Betrachte etwa \( \eta=0 \) und \( \widetilde\eta=-10^{-4}. \) Für kleine \( x\gt 0 \) stimmen die Lösungen sehr gut überein. Mit wachsendem \( x \) aber entfernen sie sich exponentiell voneinander. Dieser Effekt tritt also auch bei eine Lipschitzstetigen rechten Seite auf.

 


 

 

21.5.6 Wiederholungsfragen

 

1. Formulieren Sie das Gronwallsche Lemma.
2. Welche Folgerungen können Sie aus dem Gronwallschen Lemma ziehen?