16. Das Lebesguesche Integral


 

16.1 Historische Einführung

 

16.1.1 Lebesgues Zugang durch Unterteilung der Ordinaten

 

Wir beginnen mit H. Lebesgues ursprünglicher Idee aus dem Jahre 1904:

 

Es sei \( f\colon[a,b]\to\mathbb R \) eine beschränkte und Lebesguemessbare Funktion, so dass mit zwei reellen Zahlen \( \alpha,\beta\in\mathbb R \) gilt \[ \alpha\lt f(x)\lt\beta\quad\mbox{für alle}\ x\in\Omega. \] Zerlege nun das Intervall \( [\alpha,\beta]\subset\mathbb R \) wie folgt \[ \alpha=y_0\lt y_1\lt y_2\lt\ldots\lt y_N=\beta,\quad N\in\mathbb N, \] und setze \[ \Omega_k:=\{x\in[a,b]\,:\,y_{k-1}\le f(x)\lt y_k\}\quad\mbox{für}\ k=1,2,\ldots,N. \] Führe nun folgende Lebesguesche Unter- und Obersumme ein \[ \sum_{k=1}^Ny_{k-1}\ell_1^*(\Omega_k),\quad \sum_{k=1}^Ny_k\ell_1^*(\Omega_k). \] Dabei sind die \( \ell_1^*(\Omega_k) \) wohldefiniert, denn nach Voraussetzung ist \( f(x) \) Lebesguemessbar. Andererseits zeigt diese Herangehensweise ganz deutlich die Notwendigkeit einer Theorie der Maße von Mengen, denn es sind ja die Ausdrücke \( \ell_1^*(\Omega_k) \) zunächst überhaupt einzuführen.

 

Bilde nun das Supremum aller Untersummen und das Infimum aller Obersummen bez. aller möglichen Zerlegungen des Intervalls \( [\alpha,\beta]. \) Die Schranken \( \alpha \) und \( \beta \) „passen sich dabei an“ an den tatsächlichen Funktionsverlauf.

 

\( \longrightarrow \) Besitzen dieses Infimum und Supremum einen gemeinsamen Wert \( I\in\mathbb R, \) so heißt \( f(x) \) Lebesgueintegrierbar. Wir schreiben

\[ I=\int\limits_a^bf(x)\,d\ell_1(x). \]

 


 

 

16.1.2 Youngs Zugang nach Riemann-Darboux

 

Folgenden Zugang nach W.H. Young findet man in

 

Young, W.H.: On the general theory of integration. Philos. Trans. R. Soc. Lond. Ser. A Math. Phys. Eng. Sci. 204, 221-252, 1905.

 

Betrachte wieder eine beschränkte und Lebesguemessbare Funktion \( f\colon[a,b]\to[\alpha,\beta]. \) Zerlege jetzt das Urbild \( [a,b]\subset\mathbb R \) in eine endliche Zahl \( N\in\mathbb N \) paarweise nicht überlappender, Lebesguemessbarer Teilmengen \( \Omega_k \) mit \[ \begin{array}{l} \ell_1^*(\Omega_i\cap\Omega_j)=0,\quad\mbox{falls}\ i\not=j, \\ \Omega_k\not=\emptyset\quad\mbox{für alle}\ k=1,2,\ldots,N. \end{array} \] Dann bilde folgende Youngsche Unter- und Obersumme \[ \sum_{k=1}^N\inf_{x\in\Omega_k}f(x)\ell_1^*(\Omega_k),\quad \sum_{k=1}^N\sup_{x\in\Omega_k}f(x)\ell_1^*(\Omega_k). \] Bilde nun das Supremum aller Untersummen und das Infimum aller Obersummen bez. aller möglichen Zerlegungen des Intervalls \( [a,b] \) in Lebesguemessbare Teilmengen.

 

\( \longrightarrow \) Besitzen dieses Infimum und Supremum einen gemeinsamen Wert \( I\in\mathbb R, \) so heißt \( f(x) \) Lebesgueintegrierbar. Wir schreiben

\[ I=\int\limits_a^bf(x)\,d\ell_1(x). \]

Ist \( \Theta\subseteq[a,b] \) eine Lebesguemessbare Teilmenge, so setzen wir \[ \int\limits_\Theta f(x)\,d\ell_1(x):=\int\limits_a^bf(x)\chi_\Theta(x)\,d\ell_1(x) \] mit der charakteristischen Funktion \( \chi_\Theta(x) \) von \( \Theta. \) Beachte, dass es nicht-Lebesguemessbare Teilmengen von \( [a,b] \) gibt, auf denen \( \chi_\Theta(x) \) nicht Lebesguemessbar ist.

 


 

 

16.1.3 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Erläutern Sie in eigenen Worten Lebesgues Zugang zum Integral vermittels Unterteilung der Ordinaten.
2. Betrachten Sie die Funktion

\[ f\colon[0,1]\longrightarrow\mathbb R \quad\mbox{vermöge}\quad f(x)=1\ \mbox{auf}\ [0,1]. \]

  Ermitteln Sie die Lebesguesche Unter- und Obersumme für eine selbst gewählte äquidistante Zerlegung \( \alpha=y_0\lt y_1\lt y_2\lt y_3\lt y_4=\beta \) mit geeigneten \( \alpha,\beta\in\mathbb R. \)
  ➝  Lösung
3. Es bezeichne \( f(x) \) die Dirichletsche Sprungfunktion

\[ f\colon[0,1]\longrightarrow\mathbb R \quad\mbox{vermöge}\quad f(x) =\left\{ \begin{array}{cl} 1, & \mbox{falls}\ x\in[0,1]\cap\mathbb Q \\ 0, & \mbox{falls}\ x\in[0,1]\setminus\mathbb Q \end{array} \right.. \]

  Ermitteln Sie die Lebesguesche Unter- und Obersumme für eine selbst gewählte äquidistante Zerlegung \( \alpha=y_0\lt y_1\lt y_2\lt y_3\lt y_4=\beta \) mit geeigneten \( \alpha,\beta\in\mathbb R. \)
4. Erläutern Sie in eigenen Worten Youngs Zugang zum Integral nach Riemann-Darboux.
5. Betrachten Sie die Funktion

\[ f\colon[0,1]\longrightarrow\mathbb R \quad\mbox{vermöge}\quad f(x)=1\ \mbox{auf}\ [0,1]. \]

  Ermitteln Sie die Youngsche Unter- und Obersumme für eine selbst gewählte Zerlegung

\[ \Omega=\Omega_1\cup\Omega_2\cup\Omega_3 \]

  von \( \Omega=[0,1] \) in disjunkte und Lebesguemessbare Mengen \( \Omega_k, \) \( k=1,2,3. \)
6. Es bezeichne \( f(x) \) die Dirichletsche Sprungfunktion auf \( [0,1] \) aus Aufgabe 3. Ermitteln Sie die Youngsche Unter- und Obersumme für die Zerlegung

\[ \Omega_1=[0,1]\cap\mathbb Q,\quad \Omega_2=[0,1]\setminus\mathbb Q \]

  von \( \Omega=[0,1]. \)

 

Rechenaufgaben: 2, 3, 5, 6

 


 

16.2 Ein dritter Zugang zum Lebesgueintegral

 

16.2.1 Schritt 1 - Das Lebesgueintegral für einfache Funktionen

 

In drei Schritten stellen wir nun einen modernen Zugang zum Lebesgueintegral vor, der seine Wurzeln ebenfalls in Arbeiten von W.H. Young hat. Wir verweisen beispielsweise auf

 

Young, W.H.: On a new method in the theory of integration. Proc. Lond. Math. Soc. 9, 15-50.

 

Die Grundidee besteht darin, diejenigen Funktionen, für welche ein Integral erklärt werden soll, geeignet zu approximieren durch Funktionen, denen man entweder auf elementare Art und Weise ein Integral zuordnen kann, oder für die bereits ein Integral existiert.

 

Wir beginnen also mit einer Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n, \) die wie folgt durch endlich viele, disjunkte und Lebesguemessbare Teilmengen \( \Omega_k\subseteq\mathbb R^n \) zerlegt wird \[ \Omega=\bigcup_{k=1}^m\Omega_k\,,\quad m\in\mathbb N. \] Bezüglich dieser Zerlegung sei \( \varphi\colon\Omega\to\mathbb R \) eine einfache Funktion, wie wir sie in Paragraph 15.2.1 betrachtet haben, also \[ \varphi(x)=\sum_{k=1}^mc_k\chi_{\Omega_k}(x)\quad\mbox{mit reellen Zahlen}\ c_k\in\mathbb R. \]

 

Definition: Unter dem Lebesgueintegral einer nichtnegativen einfachen Funktion \( \varphi\colon\Omega\to\mathbb R \) verstehen wir den Ausdruck \[ \int\limits_\Omega\varphi(x)\,d\ell_n(x):=\sum_{k=1}^mc_k\ell_n^*(\Omega_k)\in\overline{\mathbb R}\,. \]

 

Bemerkung: Es ist zu beachten, dass obige Summe \[ \sum_{k=1}^mc_k\chi_{\Omega_k}(x) \] nur eine von beliebig vielen möglichen Darstellungen der einfachen Funktion \( \varphi(x) \) ist. Eine andere disjunkte Zerlegung von \( \Omega \) in Lebesguemessbare Teilmengen \( \Omega_k^*, \) \( k=1,\ldots,m^*, \) erzeugt eine weitere Darstellung gemäß \[ \varphi(x)=\sum_{k=1}^mc_k\chi_{\Omega_k}(x)=\sum_{k=1}^{m^*}c_k^*\chi_{\Omega_k^*}(x) \] mit geeignet zu wählenden Konstanten \( c_k^*\in\mathbb R. \) Es ist daher wichtig nachzuweisen, dass das Lebesgueintegral aus voriger Definition unabhängig von der Darstellung der einfachen Funktion und damit auch wirklich wohldefiniert ist. Einen Nachweis hierfür belassen wir aber als Übung.

 


 

 

16.2.2 Schritt 2 - Das Lebesgueintegral für nichtnegative Funktionen

 

Nach Paragraph 15.2.2 lässt sich eine nichtnegative Lebesguemessbare Funktion \( f(x) \) durch eine monoton wachsende Folge \( \{\varphi^{(k)}\}_{k=1,2,\ldots} \) einfacher Funktionen punktweise approximieren. Das nutzen wir aus zur

 

Definition: Es seien \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine Lebesguemessbare Menge und \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) eine nichtnegative und Lebesguemessbare Funktion. Ferner sei \( \{\varphi^{(k)}\}_{k=1,2,\ldots} \) eine monoton wachsende Folge einfacher Funktionen auf \( \Omega \) mit der Eigenschaft \[ \varphi^{(k)}(x)\nearrow f(x)\quad\mbox{punktweise in}\ \Omega\ \mbox{für}\ k\to\infty\,. \] Dann erklären wir das Lebesgueintegral von \( f(x) \) gemäß \[ \int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x):=\lim_{k\to\infty}\int\limits_\Omega\varphi^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)\in[0,\infty]. \]

 

Bemerkung: Man kann zeigen, dass diese Definition unabhängig von Wahl der approximierenden Folge einfacher Funktionen ist. Wir belassen einen solchen Nachweis als Übung.

 

Bemerkung: Die Approximation „von unten“ erzeugt ein „unteres Integral“ und erlaubt damit, auch unbeschränkte Funktionen in die Untersuchungen aufzunehmen.

 


 

 

16.2.3 Schritt 3 - Das Lebesgueintegral für beliebige Funktionen

 

Eine beliebige Lebesguemessbare Funktion \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) auf einer Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) können wir vermöge \[ f(x)=\frac{|f(x)|+f(x)}{2}-\frac{|f(x)|-f(x)}{2}\,,\quad x\in\Omega, \] in zwei nichtnegative und Lebesguemessbare Anteile aufspalten, und auf diese beiden Anteile wenden wir nun unsere Definition aus dem vorigen Paragraph an.

 

Definition: Es seien \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine Lebesguemessbare Menge und \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) eine Lebesguemessbare Funktion. Sind nun \[ \int\limits_\Omega\frac{|f(x)|+f(x)}{2}\,d\ell_n(x)\lt\infty \quad\mbox{und}\quad \int\limits_\Omega\frac{|f(x)|-f(x)}{2}\,d\ell_n(x)\lt\infty \] erfüllt, so heißt \( f(x) \) Lebesgueintegrierbar, und wir setzen \[ \int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x) :=\int\limits_\Omega\frac{|f(x)|+f(x)}{2}\,d\ell_n(x)-\int\limits_\Omega\frac{|f(x)|-f(x)}{2}\,d\ell_n(x). \]

 

Bemerkung: Die Endlichkeitsbedingungen in diesem Satz sind notwendig, da wir insbesondere den sonst möglichen Fall „\( \infty-\infty \)“ ausschließen müssen, siehe Paragraph 15.1.3.

 

Bemerkung: Erst mit dieser Definition haben wir festgelegt, was wir unter Lebesgueintegrierbarkeit verstehen wollen.

 


 

 

16.2.4 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Erläutern Sie in wenigen Worten die drei Schritte unseres dritten Zugangs zum Lebesgueintegral.

 

Rechenaufgaben:

 


 

16.3 Eigenschaften des Lebesgueintegrals

 

16.3.1 Das Lebesgueintegral als Maß

 

Wir führen ein \[ {\mathcal L}_n:=\{\Omega\subseteq\mathbb R^n\,:\,\Omega\ \mbox{ist Lebesguemessbar nach Caratheodory}\}\,. \]

 

Satz: Es sei \( \varphi\colon\Omega\to\mathbb R \) nichtnegativ, Lebesguemessbar und einfach. Dann ist die Abbildung \[ \Phi\colon{\mathcal L}_n\longrightarrow[0,\infty] \quad\mbox{vermöge}\quad \Phi(\Theta):=\int\limits_\Theta\varphi(x)\,d\ell_n(x) \] abzählbar additiv.

 

Beweis

 

Es sei wieder \[ \varphi(x)=\sum_{i=1}^mc_i\chi_{\Omega_i}(x),\quad x\in\Omega, \] und es seien \( \Theta_j, \) \( j=1,2,\ldots, \) abzählbar viele, paarweise disjunkte und Lebesguemessbare Mengen. Dann berechnen wir \[ \begin{array}{lll} \displaystyle \Phi\left(\,\bigcup_{j\ge 1}\Theta_j\right)\negthickspace & = & \displaystyle\negthickspace \int\limits_{\Theta_1\cup\Theta_2\cup\ldots}\varphi(x)\,d\ell_n(x) \,=\,\sum_{i=1}^mc_i\ell_n^*\left(\Omega_i\cap\bigcup_{j\ge 1}\Theta_j\right) \\ & = & \displaystyle\negthickspace \sum_{i=1}^mc_i\sum_{j\ge 1}\ell_n^*(\Omega_i\cap\Theta_j) \,=\,\sum_{j\ge 1}\sum_{i=1}^mc_i\ell_n^*(\Omega_i\cap\Theta_j) \\ & = & \displaystyle\negthickspace \sum_{j\ge 1}\int\limits_{\Theta_j}\varphi(x)\,d\ell_n(x) \,=\,\sum_{j\ge 1}\Phi(\Theta_j). \end{array} \] Das war zu zeigen.\( \qquad\Box \)

 

 

Man sagt, die Abbildung \( \Phi(\Theta) \) stellt ein Maß auf \( {\mathcal L}_n \) dar. Unter einem Maß auf einer \( \sigma \)-Algebra \( {\mathcal A} \) von Mengen versteht man dabei eine nichtnegative Mengenabbildung \( \mu, \) so dass für alle \( \Omega\in{\mathcal A} \) gelten

(i) \( \mu(\emptyset)=0 \)
(ii) \( \displaystyle\mu\left(\,\bigcup_{i\ge 1}\Omega_i\right)=\sum_{i\ge 1}\mu(\Omega_i) \) für \( \Omega_i\in{\mathcal A} \) paarweise disjunkt.

In unserer Vorlesung beschäftigen wir uns mit dem äußeren Lebesguemaß.

 

Allgemeiner gilt sogar der

 

Satz: Es sei \( f\colon\mathbb R^n\to\overline{\mathbb R} \) nichtnegativ und Lebesguemessbar. Dann ist \[ \Phi\colon{\mathcal L}_n\longrightarrow[0,\infty] \quad\mbox{vermöge}\quad \Phi(\Theta):=\int\limits_\Theta f(x)\,d\ell_n(x) \] abzählbar additiv.

 

Für Details verweisen wir auf die empfohlene Literatur.

 


 

 

16.3.2 Der Satz von der monotonen Konvergenz

 

Wir kommen nun zu unserem ersten wichtigen Resultat der Lebesgueschen Maß- und Integrationstheorie.

 

Satz: Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) sei vermittels \( f^{(k)}\colon\Omega\to\overline{\mathbb R}, \) \( k=1,2,\ldots, \) eine Folge nichtnegativer, monoton wachsender und Lebesguemessbarer Funktionen gegeben mit \[ 0\le f^{(1)}(x)\le f^{(2)}(x)\le\ldots\quad\mbox{in}\ \Omega \quad\mbox{und}\quad \lim_{k\to\infty}f^{(k)}(x)=:f(x). \] Dann ist die Grenzfunktion \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) auf \( \Omega \) Lebesguemessbar, und es gilt \[ \lim_{k\to\infty}\int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)=\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x). \]

 

Beweisidee

 

Wir gehen in zwei Schritten vor:

1. Aus der Monotonie \( 0\le f^{(1)}(x)\le f^{(2)}(x)\le\ldots\le f(x) \) folgt

\[ \int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)\le\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x) \]

  für alle \( k=1,2,\ldots \) und damit auch

\[ \lim_{k\to\infty}\int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)\le\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x). \]

  Das zeigt eine Ungleichungsrichtung.
2. Sei nun umgekehrt \( \varepsilon\in(0,1). \) Betrachte eine einfache Funktion \( \varphi(x) \) mit \( 0\le\varphi(x)\le f(x) \) für alle \( x\in\Omega, \) und setze

\[ \Omega_k:=\{x\in\Omega\,:\,f^{(k)}(x)\ge\varepsilon\varphi(x)\}\,. \]

  Man mache sich \( \Omega_k\subseteq\Omega_{k+1} \) und \( \Omega_1\cup\Omega_2\cup\ldots=\Omega \) klar. Dann ist

\[ \int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x) \ge\int\limits_{\Omega_k}f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x) \ge\varepsilon\int\limits_{\Omega_k}\varphi(x)\,d\ell_n(x). \]

  Es folgt (siehe Bemerkung nach dem Beweis)

\[ \varepsilon\int\limits_\Omega\varphi(x)\,d\ell_n(x) =\varepsilon\lim_{k\to\infty}\int\limits_{\Omega_k}\varphi(x)\,d\ell_n(x) \le\lim_{k\to\infty}\int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x) \]

  bzw. nach Grenzübergang \( \varepsilon\to 1 \)

\[ \lim_{k\to\infty}\int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)\ge\int\limits_\Omega\varphi(x)\,d\ell_n(x). \]

  Da schließlich \( \varphi(x) \) mit obigen Eigenschaften beliebig gewählt wurde, insbesondere also mit \( 0\le\varphi\le f, \) folgt

\[ \lim_{k\to\infty}\int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)\ge\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x). \]

  Das zeigt die entgegengesetzte Ungleichungsrichtung.

 

Damit ist der Satz bewiesen.\( \qquad\Box \)

 

 

Bemerkung: Wir wiederholen aus dem Beweis des Satzes \( \Omega_k\subseteq\Omega_{k+1} \) für alle \( k=1,2,\ldots \) sowie \( \Omega_1\cup\Omega_2\cup\ldots=\Omega. \) Wir setzen \( \Omega_0:=\emptyset \) und erhalten mit \[ \Omega=(\Omega_1\setminus\Omega_0)\cup(\Omega_2\setminus\Omega_1)\cup(\Omega_3\setminus\Omega_2)\cup\ldots \] eine Zerlegung von \( \Omega \) in paarweise disjunkte Mengen \( \Omega_1\setminus\Omega_0, \) \( \Omega_2\setminus\Omega_1 \) usw. Mit unser obigen Setzung des Maßes \[ \Phi(\Theta):=\int\limits_\Theta\varphi(x)\,d\ell_n(x) \] ermitteln wir nun \[ \begin{array}{lll} \Phi(\Omega)\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \Phi\left(\,\bigcup_{k\ge 1}\Omega_k\setminus\Omega_{k-1}\right) \,=\,\lim_{m\to\infty}\sum_{k=1}^m\Phi(\Omega_k\setminus\Omega_{k-1}) \\ & = & \negthickspace\displaystyle \lim_{m\to\infty}\sum_{k=1}^m\{\Phi(\Omega_k)-\Phi(\Omega_{k-1})\} \,=\,\lim_{m\to\infty}\{\Phi(\Omega_m)-\Phi(\Omega_0)\} \\ & = & \negthickspace\displaystyle \lim_{m\to\infty}\Phi(\Omega_m), \end{array} \] und wir erkennen die im Beweis benötigte Identität wieder \[ \int\limits_\Omega\varphi(x)\,d\ell_n(x) =\lim_{m\to\infty}\int\limits_{\Omega_m}\varphi(x)\,d\ell_n(x). \]

 


 

 

16.3.3 Linearität des Lebesgueintegrals

 

Mit Hilfe des Satzes über monotone Konvergenz gewinnt man den

 

Satz: Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) seien \( f,g\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) zwei Lebesgueintegrierbare Funktionen. Ferner seien \( \alpha,\beta\in\mathbb R. \) Dann ist auch die Funktion \[ h(x):=\alpha f(x)+\beta g(x),\quad x\in\Omega, \] Lebesgueintegrierbar über \( \Omega, \) und es gilt \[ \int\limits_\Omega\big\{\alpha f(x)+\beta g(x)\big\}\,d\ell_n(x) =\alpha\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)+\beta\int\limits_\Omega g(x)\,d\ell_n(x). \]

 

Wir wollen einen Beweis dieses Satzes auslassen und benennen nur die drei wesentlichen Beweisschritte:

\( \circ \) beweise die Behauptung zunächst für einfache Funktionen,
\( \circ \) beweise die Behauptung für positive Lebesguemessbare Funktionen, die sich durch monoton wachsende Folgen einfacher Funktionen approximieren lassen, und zwar unter Verwendung des Satzes über monotone Konvergenz,
\( \circ \) beweise die Behauptung für beliebige Lebesgueintegrierbare Funktionen.

 

Bemerkung: Die Identität \[ \int\limits_\Omega\big\{f(x)+g(x)\}\,d\ell_n(x) =\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)+\int\limits_\Omega g(x)\,d\ell_n(x) \] für nichtnegative Lebesguemessbare Funktionen \( f(x) \) und \( g(x), \) die man also zunächst für einfache Funktionen beweist und anschließend für die in Frage stehenden Funktionen \( f(x) \) und \( g(x) \) vermittels Approximation durch monoton wachsende Folgen einfacher Funktionen, kann vermöge vollständiger Induktion auf nichtnegative und Lebesguemessbare Funktionen \( f^{(1)},\ldots,f^{(N)} \) für beliebige \( N\in\mathbb N \) verallgemeinert werden zu \[ \int\limits_\Omega\sum_{k=1}^Nf^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)=\sum_{k=1}^N\int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x). \] Eine Anwendung des Satzes über monotone Konvergenz, die wir als Übung belassen, zeigt dann sogar \[ \int\limits_\Omega\sum_{k=1}^\infty f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x)=\sum_{k=1}^\infty\int\limits_\Omega f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x) \] für eine Folge nichtnegativer und Lebesguemessbarer Funktionen \( f^{(1)},f^{(2)},\ldots \)

 


 

 

16.3.4 Nichtnegativität, Normiertheit und Dreiecksungleichung

 

Der aus dem vorigen Abschnitt bewiesenen Linearität fügen wir nun die folgenden weiteren Eigenschaften des Lebesgueintegrals hinzu.

 

Satz: Es sei \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine Lebesguemessbare Menge. Dann sind folgende Aussagen richtig:

(i) Das Lebesgueintegral ist nichtnegativ, d.h. es gilt

\[ \int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)\ge 0 \]

  für alle Lebesgueintegrierbaren Funktionen \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) mit \( f(x)\ge 0 \) in \( \Omega. \)
(ii) Das Lebesgueintegral ist normiert, d.h. es gilt

\[ \int\limits_\Omega 1\,d\ell_n(x)=\ell_n^*(\Omega). \]

 

Schließlich ist auch die aus der Riemannschen Integrationstheorie bekannte Dreiecksungleichung richtig. Allerdings gilt noch mehr, wie unser nächster Satz lehrt.

 

Satz: Es sei \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine Lebesguemessbare Menge, und \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) sei eine Lebesguemessbare Funktion. Dann ist \( f(x) \) genau dann Lebesgueintegrierbar, wenn \( |f(x)| \) Lebesgueintegrierbar ist. In diesem Fall gilt die Dreiecksungleichung \[ \left|\,\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)\right| \le\int\limits_\Omega|f(x)|\,d\ell_n(x). \]

 

Beweisidee

 

1. Ist \( f(x) \) Lebesgueintegrierbar, so gelten nach Definition

\[ \int\limits_\Omega f^+(x)\,d\ell_n(x)\lt\infty\,,\quad \int\limits_\Omega f^-(x)\,d\ell_n(x)\lt\infty \]

  mit den Setzungen

\[ f(x)^+:=\frac{|f(x)|+f(x)}{2}\,,\quad f(x)^-:=\frac{|f(x)|-f(x)}{2}\,. \]

  Nach Paragraph 15.1.4 ist \( |f(x)| \) Lebesguemessbar, also auch \( f(x)^+ \) und \( f(x)^-, \) und somit sind \( f(x)^+ \) und \( f(x)^- \) Lebesgueintegrierbar. Wir können daher die Linearitäteigenschaft aus Paragraph 16.3.3 anwenden und erhalten

\[ \begin{array}{lll} \displaystyle \int\limits_\Omega|f(x)|\,d\ell_n(x)\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \int\limits_\Omega\big\{f(x)^++f(x)^-\big\}\,d\ell_n(x) \\ & = & \negthickspace\displaystyle \int\limits_\Omega f(x)^+\,d\ell_n(x)+\int\limits_\Omega f(x)^-\,d\ell_n(x) \,\lt\,\infty\,. \end{array} \]

  Das zeigt die Lebesgueintegrierbarkeit von \( |f(x)|. \)
2. Nach Voraussetzung sind \( f(x) \) und \( |f(x)| \) Lebesguemessbar, da nämlich insbesondere \( |f(x)| \) Lebesgueintegrierbar ist. Also sind auch \( f(x)^+ \) und \( f(x)^- \) Lebesguemessbar nach Paragraph 15.1.4. Wegen

\[ \int\limits_\Omega|f(x)|\,d\ell_n(x) =\int\limits_\Omega\big\{f(x)^++f(x)^-\big\}\,d\ell_n(x) \lt\infty \]

  schließen wir auf

\[ \int\limits_\Omega f(x)^+\,d\ell_n(x)\lt\infty\,,\quad \int\limits_\Omega f(x)^-\,d\ell_n(x)\le\infty\,, \]

  d.h. \( f(x)^+ \) und \( f(x)^- \) sind Lebesgueintegrierbar, und nach Paragraph 16.3.3 ist auch \( f=f^+-f^- \) Lebesgueintegrierbar.

 

Damit ist alles bewiesen.\( \qquad\Box \)

 


 

 

 

16.3.5 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Wiederholen Sie die Punkte (i) und (ii) aus Paragraph 16.3.1, die ein Maß charakterisieren.
2. Wie lautet der Satz von der monotonen Konvergenz?
3. Betrachten Sie die vermittels

\[ f^{(k)}(x):=1-x^k\,,\quad x\in[0,1], \]

  gegebene Funktionenfolgen \( \{f^{(k)}\}_{k=1,2,\ldots} \)
 
(i) Ermitteln Sie den punktweisen Grenzwert \( f\colon[0,1]\to\mathbb R. \)
(ii) Ermitteln Sie den Wert \( I\in\mathbb R \) des Integrals

\[ \int\limits_{[0,1]}f(x)\,d\ell_1(x) \]

 
  durch direktes Ausrechnen.
(iii) Ermitteln Sie den Wert \( I \) ein zweites Mal, jetzt aber durch Auswerten des Grenzwerts

\[ \lim_{k\to\infty}\int\limits_{[0,1]}f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x). \]

  Begründen Sie Ihre Ergebnisse unter Verwendung des Satzes der monotonen Konvergenz.
4. Betrachten Sie die vermittels

\[ f^{(k)}(x) :=\left\{ \begin{array}{cc} 0, & \displaystyle 0\le x\le\frac{1}{k^2} \\ \displaystyle\frac{1}{\sqrt{x}}\,, & \displaystyle \frac{1}{k^2}\lt x\le 1 \end{array} \right.,\quad x\in[0,1],\]

  gegebene Funktionenfolgen \( \{f^{(k)}\}_{k=1,2,\ldots} \)
 
(i) Ermitteln Sie den punktweisen Grenzwert \( f\colon[0,1]\to\mathbb R. \)
(ii) Ermitteln Sie den Wert \( I\in\mathbb R \) des Integrals

\[ \int\limits_{[0,1]}f(x)\,d\ell_1(x) \]

 
  durch direktes Ausrechnen.
(iii) Ermitteln Sie den Wert \( I \) ein zweites Mal, jetzt aber durch Auswerten des Grenzwerts

\[ \lim_{k\to\infty}\int\limits_{[0,1]}f^{(k)}(x)\,d\ell_n(x). \]

  Begründen Sie Ihre Ergebnisse unter Verwendung des Satzes der monotonen Konvergenz.
5. Was versteht man unter der Linearität des Lebesgueintegrals?
6. Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) seien zwei einfache Funktionen in den Darstellungen

\[ \begin{array}{l} \displaystyle \varphi(x):=\sum_{i=1}^sc_i\chi_{\Omega_i}(x),\quad \psi(x):=\sum_{j=1}^td_j\chi_{\Theta_j}(x) \\ \displaystyle \mbox{mit Zerlegungen}\quad \Omega=\bigcup_{i=1}^s\Omega_i=\bigcup_{j=1}^t\Theta_j \quad\mbox{gemäß Paragraph 16.2.1} \end{array} \]

  gegeben. Beweisen Sie

\[ \int\limits_\Omega\big\{\varphi(x)+\psi(x)\big\}\,d\ell_n(x) =\int\limits_\Omega\varphi(x)\,d\ell_n(x)+\int\limits_\Omega\psi(x)\,d\ell_n(x). \]

7. Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) sei \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) nichtnegativ und Lebesguemessbar. Beweisen Sie die Richtigkeit von

\[ \int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)\ge 0 \]

  durch Approximation von \( f(x) \) durch eine Folge monoton wachsender, einfacher Funktionen und Auswerten des Lebesgueintegrals dieser einfachen Funktionen.

 

Rechenaufgaben: 3, 4, 6, 7

 


 

16.4 Die Tschebyschevsche Ungleichung und Folgerungen

 

16.4.1 Die Tschebyschevsche Ungleichung

 

Hierbei handelt es sich um Folgendes:

 

Satz: Es seien \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine Lebesguemessbare Menge und \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) eine nichtnegative und Lebesguemessbare Funktion. Sei ferner \( \lambda\gt 0 \) eine reelle Zahl. Dann gilt \[ \ell_n^*(\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt\lambda\})\le\frac{1}{\lambda}\,\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x). \]

 

Beweis

 

Es ist zunächst \[ \lambda\chi_{\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt\lambda\}}(x)\le f(x)\quad\mbox{für alle}\ x\in\Omega \] mit der charakteristischen Funktion \( \chi. \) Die Menge \( \{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt\lambda\} \) ist Lebesguemessbar, so dass Integration liefert \[ \lambda\ell_n^*(\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt\lambda\}) =\int\limits_\Omega\lambda\chi_{\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt\lambda\}}(x)\,d\ell_n(x) \le\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x) \] nach dem Satz aus Paragraph 16.3.4 sowie unter Beachtung der Monotonie des Lebesgueintegrals. Nach Umstellen folgt \[ \ell_n^*(\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt\lambda\})\le\frac{1}{\lambda}\,\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x) \] und damit die Behauptung.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

16.4.2 Fast überall verschwindende Integranden

 

Eine erste Folgerung der Tschebyschevschen Ungleichung ist der

 

Satz: Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) sei die nichtnegative und Lebesguemessbare Funktion \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) gegeben. Dann gilt \[ \int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)=0 \quad\mbox{genau dann, wenn}\quad f=0\ \mbox{fast überall in}\ \Omega, \] d.h. genau dann, wenn \( f(x)=0 \) gilt für alle \( x\in\Omega\setminus N \) mit einer Lebesgueschen Nullmenge \( N\subset\Omega. \)

 

 

Beweis

 

Wir zeigen zwei Richtungen.

1. Es sei \( f=0 \) fast überall in \( \Omega. \) Sei dazu zunächst

\[ f(x)=\sum_{i=1}^mc_i\chi_{\Omega_i}(x) \]

  nichtnegativ und einfach. Beachte \( c_i\ge 0 \) für alle \( i=1,\ldots,m. \) Ist nun \( c_i\gt 0 \) für ein \( i\in\{1,\ldots,m\}, \) so folgt notwendig \( \ell_n^*(\Omega_i)=0, \) und damit verschwindet auch das Lebesgueintegral über \( f(x), \) genauer

\[ \int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)=\sum_{i=1}^mc_i\ell_n^*(\Omega_i). \]

  Ist \( f(x) \) nun nichtnegativ und Lebesguemessbar, so approximieren wir \( f(x) \) monoton wachsend durch einfache Funktionen.
2. Es gelte nun \( \displaystyle\int_\Omega f(x)\,d\ell_n(x)=0. \) Wir setzen

\[ \begin{array}{rcl} \Theta_k\negthickspace & := & \negthickspace\displaystyle \left\{x\in\Omega\,:\,f(x)\ge\frac{1}{k}\right\}, \\ \Theta\negthickspace & := & \negthickspace\displaystyle \big\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt 0\big\} \,=\,\bigcup_{k\ge 1}\Theta_k\,. \end{array} \]

  Wäre \( \ell_n^*(\Theta)\gt 0, \) so gibt es ein \( \Theta_k \) mit \( \ell_n^*(\Theta_k)\gt 0. \) Die Tschebyschevsche Ungleichung liefert für diese Menge

\[ 0\lt\frac{1}{k}\cdot\ell_n^*(\Theta_k)\le\int\limits_{\Theta_k}f(x)\,d\ell_n(x)\le\int\limits_\Omega f(x)\,d\ell_n(x). \]

  Das ist ein Widerspruch zur Voraussetzung, weshalb notwendig \( \ell_n^*(\Theta)=0 \) bzw. \( f=0 \) fast überall in \( \Omega \) folgt.

 

Damit ist der Satz bewiesen.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

16.4.3 Endlichkeit fast überall Lebesgueintegrierbarer Funktionen

 

Als Übung belassen wir einen Beweis des folgenden

 

Satz: Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) sei \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) Lebesgueintegrierbar. Dann gelten die folgenden Aussagen:

(i) Für alle \( \lambda\gt 0 \) gilt \( \ell_n^*(\Omega_\lambda)\lt\infty \) für die Menge

\[ \Omega_\lambda:=\{x\in\Omega\,:\,|f(x)|\gt\lambda\}\,. \]

(ii) Die Funktion ist fast überall endlich.

 

 


 

 

16.4.4 Absolutstetigkeit des Lebesguemaßes

 

Die Tschebyschevsche Ungleichung impliziert auch die folgende Aussage:

 

Satz: Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) sei \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) Lebesgueintegrierbar. Gilt dann \[ \int\limits_\Theta f(x)\,d\ell_n(x)=0 \] für alle Lebesguemessbaren Teilmengen \( \Theta\subseteq\Omega, \) so folgt \[ f(x)=0\quad\mbox{fast überall in}\ \Omega. \]

 

 

Beweis

 

Wir gehen in zwei Schritten vor.

1. Wir setzen

\[ \Theta^+:=\Theta\cap\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt 0\}\,,\quad \Theta^-:=\Theta\cap\{x\in\Omega\,:\,f(x)\lt 0\}\,. \]

  Alle rechts auftretenden Mengen sind Lebesguemessbar, also auch \( \Theta^+ \) und \( \Theta^-. \) Wegen

\[ \int\limits_\Theta f(x)^+\,d\ell_n(x)=\int\limits_{\Theta^+}f(x)\,d\ell_n(x),\quad -\,\int\limits_\Theta f(x)^-\,d\ell_n(x)=\int\limits_{\Theta^-}f(x)\,d\ell_n(x) \]

  mit den Setzungen \( f(x)^+ \) und \( f(x)^- \) aus dem Beweis des Satzes aus Paragraph 16.3.4 folgen also

\[ \int\limits_\Theta f(x)^+\,d\ell_n(x)=0,\quad \int\limits_\Theta f(x)^-\,d\ell_n(x)=0 \]

  für alle messbaren Teilmengen \( \Theta\subseteq\Omega. \) Da \( f(x)^+ \) und \( f(x)^- \) nichtnegativ sind, können wir im Folgenden annehmen \( f(x)\ge 0 \) in \( \Omega. \)
2. Nun gehen wir wie in Paragraph 16.4.2 vor: Zunächst setzen wir

\[ \Omega_k:=\left\{x\in\Omega\,:\,f(x)\ge\frac{1}{k}\right\}. \]

  Die Tschebyschevsche Ungleichung liefert dann wie in Paragraph 16.4.2

\[ \frac{1}{k}\cdot\ell_n^*(\Omega_k)\le\int\limits_{\Omega_k}f(x)\,d\ell_n(x)=0 \quad\mbox{für alle}\ k=1,2,\ldots, \]

  d.h. \( \ell_n^*(\Omega_k)=0 \) für alle \( k=1,2,\ldots, \) d.h.

\[ \ell_n^*(\{x\in\Omega\,:\,f(x)\gt 0\}) \le\sum_{k\ge 1}\ell_n^*(\Omega_k) =0. \]

  Also gilt \( f=0 \) fast überall in \( \Omega. \)

 

Das war zu zeigen.\( \qquad\Box \)

 

 

Die folgende Aussage ist auch unter als Absolutstetigkeit des Lebesguemaßes bekannt. Wir geben sie ohne Beweis wieder.

 

Satz: Auf der Lebesguemessbaren Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) sei die Lebesguemessbare Funktion \( f\colon\Omega\to\overline{\mathbb R} \) gegeben. Dann gilt \[ \lim_{\ell_n^*(\Theta)\to 0}\int\limits_\Theta f(x)\,d\ell_n(x)=0, \] wobei der Grenzwert über Lebesguemessbare Mengen \( \Theta\subseteq\Omega \) ausgeführt wird.

 


 

 

16.4.5 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Wie lautet die Tschebyschevsche Ungleichung?
2. Wiederholen Sie den Satz aus Paragraph 16.4.2. Geben Sie ein Gegenbeispiel für den Fall, dass die Funktion \( f(x) \) beliebige Werte in \( \overline{\mathbb R} \) annimmt.
3. Formulieren und beweisen Sie den Satz aus Paragraph 16.4.3.
4. Wiederholen Sie die beiden Sätze aus Paragraph 16.4.4.

 

Rechenaufgaben: 2, 3