23. Exakte Differentialgleichungen


 

23.1 Exakte Differentialgleichungen

 

23.1.1 Ein einführendes Beispiel

 

Wir betrachten die Kurvenschar \[ x^2+y^2=r^2 \] mit reellem Scharparameter \( r\gt 0. \) Wir unterscheiden zwei Betrachtungsweisen:

\( \circ \) Über dem Intervall \( (-r,r) \) können wir die Kurven als Funktionen \( y=y(x) \) darstellen. Es folgt nach Differenzieren bez. der Koordinate \( x \)

\[ 2x+2yy'=0\quad\mbox{bzw.}\quad y'=-\,\frac{x}{y}\,,\ y\not=0. \]

\( \circ \) Ist \( t\in T \) ein regulärer Kurvenparameter für die Parametrisierung \( (x(t),y(t)), \) so dass also gilt

\[ \dot x^2+\dot y^2\gt 0\quad\mbox{für alle}\ t\in T, \]

  so erhalten wir nach Differenzieren der Gleichung bez. dem Parameter \( t \)

\[ x\dot x+y\dot y=0. \] Wir haben also zwei differenzielle Darstellungen der Kurvenschar:

\( \circ \) \( g(x,y)+h(x,y)y'=0 \) bez. der Darstellung \( y=y(x) \)
\( \circ \) \( g(x,y)\dot x+h(x,y)\dot y=0 \) bez. der Darstellung \( x=x(t),\ y=y(t) \)

 

Aufgabe 1: (Differenzielle Darstellung der Ellipse)

Wir betrachten die Ellipse \[ {\mathcal E}\,:\,\frac{x^2}{a^2}+\frac{y^2}{b^2}=1 \] mit den reellen Halbachsen \( 0\lt a\le b\lt\infty. \)

(i) Verifizieren Sie, dass für die Darstellung \( y=y(x) \) über \( (-a,a)\subset\mathbb R \) gilt

\[ y'=\vartheta\cdot\frac{x}{y}\,,\quad y\gt 0, \]

  mit der Konstanten

\[ \vartheta:=\varepsilon^2-1\quad\mbox{und der Exzentrität}\quad\varepsilon:=\sqrt{1-\frac{b^2}{a^2}}\in[0,1)\,. \]

(ii) Verifizieren Sie, dass eine reguläre parametrische Darstellung \( (x(t),y(t)) \) von \( {\mathcal E} \) erfüllt

\[ y\dot y=\vartheta\,x\dot x. \]

Lösung

 

(i) Ableiten liefert zunächst

\[ \frac{x}{a^2}+\frac{yy'}{b^2}=0 \quad\mbox{bzw.}\quad \frac{b^2}{a^2}\,x+yy'=0. \]

  bzw. mit den Setzung für \( \varepsilon \) und \( \vartheta \)

\[ y'=(\varepsilon^2-a)\cdot\frac{x}{y}=\vartheta\cdot\frac{x}{y}\,. \]

(ii) Ableiten liefert zunächst

\[ \frac{2x\dot x}{a^2}+\frac{2y\dot y}{b^2}=0 \quad\mbox{bzw.}\quad \frac{b^2}{a^2}\,x\dot x+y\dot y=0. \]

  Es folgt

\[ 0=(1-\varepsilon)x\dot x+y\dot y =-\vartheta x\dot x+y\dot y. \]

  Umstellen liefert die behauptete Identität.

 

Damit ist alles gezeigt.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

23.1.2 Differentialgleichungen als Differentialformen

 

Allgemein wollen wir solche Differentialgleichungen als Differentialform schreiben \[ g(x,y)\,dx+h(x,y)\,dy=0 \tag{\( * \)} \] und verstehen hierunter folgendes:

\( \circ \) Ist \( y=y(x), \) so verstehen wir \( (*) \) als

\[ g(x,y)+h(x,y)y'=0. \]

\( \circ \) Ist \( x=x(y), \) so verstehen wir \( (*) \) als

\[ g(x,y)x'+h(x,y)=0. \]

\( \circ \) Ist \( x=x(t), \) \( y=y(t) \) mit einem regulären Kurvenparameter \( t, \) so verstehen wir \( (*) \) als

\[ g(x,y)\dot x+h(x,y)\dot y=0. \] Auch \( (*) \) bezeichnen wir als Differentialgleichung.

 

Aufgabe 1: (Differentialgleichungen für den Kreis)

Vorgelegt sei die Gleichung \[ 2x\,dx+2y\,dy=0 \] für einen Kreis vom Radius \( r\gt 0. \) Verifizieren Sie die Gültigkeit folgender Differentialgleichungen:

(i) \( x+yy'=0 \) für eine Darstellung \( y=y(x) \) mit \( y\not=0 \)
(ii) \( xx'+y=0 \) für eine Darstellung \( x=x(y) \) mit \( x\not=0 \)
(iii) \( x\dot x+y\dot y=0 \) für eine parametrische Darstellung \( (x(t),y(t)) \)

 

Lösung

 

Es sind \( g(x,y)=2x \) und \( h(x,y)=2y. \)

(i) Im Fall \( y=y(x) \) ist

\[ 2x+2yy'=0 \quad\mbox{bzw.}\quad x+yy'=0. \]

(ii) Im Fall \( x=x(y) \) ist

\[ 2xx'+2y=0 \quad\mbox{bzw.}\quad xx'+y=0. \]

(iii) Im parametrischen Fall ist

\[ 2x\dot x+2y\dot y=0 \quad\mbox{bzw.}\quad x\dot x+y\dot y=0. \] Damit ist alles gezeigt.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

23.1.3 Definition exakter Differentialgleichungen

 

Definition: Die Gleichung \[ g(x,y)\,dx+h(x,y)\,dy=0 \] heißt in der offenen und zusammenhängenden Menge \( D\subseteq\mathbb R^2 \) exakt, falls \( (g,h) \) ein Gradientenfeld in \( D \) darstellt, d.h. falls eine Funktion \( F\in C^1(D,\mathbb R) \) existiert mit \[ F_x(x,y)=g(x,y),\quad F_y(x,y)=h(x,y)\quad\mbox{in}\ D. \] Hierbei heißt \( F(x,y) \) eine Stammfunktion der Differentialgleichung mit Gradientenfeld \( (g,h). \)

 

Beispiel: Die Gleichung \[ 2x\,dx+2y\,dy=0\quad\mbox{in}\ \mathbb R^2 \] mit \( g(x,y)=2x \) und \( h(x,y)=2y \) ist in \( D=\mathbb R^2 \) exakt mit einer Stammfunktion \[ F(x,y)=x^2+y^2\,,\quad(x,y)\in\mathbb R^2\,, \] denn es sind \( F_x=2x \) und \( F_y=2y. \) Die zugehörigen „Lösungskurven“ sind konzentrische Kreise um den Ursprung mit Radius \( r, \) also \[ F(x,y)=x^2+y^2=r^2\,,\quad r\gt 0. \]

 

Der Begriff der „Lösungskurve“ wird im Existenzsatz des nächsten Paragraphens noch einmal aufgegriffen.

 

Aufgabe 1: (Beispiel einer exakten Gleichung I)

Verifizieren Sie, dass die Differentialgleichung \[ 2(x+y)\,dx+2(x+y)\,dy=0\quad\mbox{in}\ \mathbb R^2 \] exakt ist mit einer Stammfunktion \[ F(x,y)=x^2+2xy+y^2\,,\quad(x,y)\in\mathbb R^2\,. \]

Lösung

 

Wir berechnen nämlich \[ F_x=2x+2y,\quad F_y=2x+2y, \] woraus die Behauptung folgt.\( \qquad\Box \)

 

 

Aufgabe 2: (Beispiel einer exakten Gleichung II)

Verifizieren Sie, dass die Differentialgleichung \[ (2x\sin xy+x^2y\cos xy)\,dx+(x^3\cos xy-3e^y)\,dy\quad\mbox{in}\ \mathbb R^2 \] exakt ist mit einer Stammfunktion \[ F(x,y)=x^2\sin xy-3e^y,\quad(x,y)\in\mathbb R^2\,. \]

Lösung

 

Wir berechnen nämlich \[ F_x=2x\sin xy+x^2y\cos xy,\quad F_y=x^3\cos xy-3e^y\,, \] woraus die Behauptung folgt.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

23.1.4 Ein Existenzsatz

 

Für den folgenden Existenzsatz und dessen Beweis verweisen wir auf die Lehrbücher von F. Sauvigny und R. Walter.

 

Satz: Es seien \( g,h\in C^0(D,\mathbb R). \)

1. Ist die Gleichung  

\[ g(x,y)\,dx+h(x,y)\,dy=0 \]

  in \( D\subseteq\mathbb R^2 \) exakt mit einer Stammfunktion \( F\in C^1(D,\mathbb R), \) so lösen

\[ x,y\in C^1(T,\mathbb R) \quad\mbox{mit}\quad \mathbb R\supseteq T\ni t\mapsto(x(t),y(t))\subset D \]

  als Funktionenpaar \( (x,y) \) genau dann die parametrische Gleichung

\[ g(x,y)\dot x+h(x,y)\dot y=0\quad\mbox{in}\ T \]

  mit regulärem Kurvenparameter \( t\in T, \) falls gilt

\[ F(x(t),y(t))=\mbox{const}\quad\mbox{in}\ T. \]

  Ebenso ist \( y(x) \) eine Lösung, wenn \( F(x,y(x))=\mbox{const} \) in \( I \) richtig ist.
2. Gilt außerdem

\[ g(x,y)^2+h(x,y)^2\gt 0\quad\mbox{in}\ D, \]

  so erhält man durch Auflösen von \( F(x,y)=\alpha\in\mathbb R \) alle Lösungskurven
 
\( \circ \) von \( g+hy'=0 \) im Fall \( y=y(x) \) bzw.
\( \circ \) von \( gx'+h=0 \) im Fall \( x=x(y). \)
  Durch jeden Punkt von \( D\subseteq\mathbb R^2 \) geht genau eine solche Lösungskurve.

 

Beweisidee

 

Wir gehen in zwei Schritten vor.
(i) Es sei \( g(x,y)\,dx+h(x,y)\,dy=0 \) exakt mit Stammfunktion \( F(x,y). \) Mit zwei regulären Parametrisierungen \( x,y\in C^1(T,\mathbb R) \) berechnen wir
\[ 0=g(x,y)\dot x+h(x,y)\dot y=F_x(x,y)\dot x+F_y(x,y)\dot y=\frac{d}{dt}\,F(x,y). \]
  Es ist \( (x(t),y(t)) \) also genau dann eine Lösung der parametrischen Gleichung, wenn
\[ F(x(t),y(t))=\mbox{const} \]
  richtig ist. Die weitere Behauptung verbleibt als Übung.
(ii) Ist \( (\xi,\eta)\in D \) mit \( F(\xi,\eta)=\alpha, \) so ist
\[ F(x,y)=\alpha \]
  nahe \( (\xi,\eta)\in D \) auflösbar nach \( x \) oder \( y \) nach dem Satz über implizite Funktionen, da wegen \( g=F_x, \) \( h=F_y \) und - nach Voraussetzung - \( g^2+h^2\gt 0 \) folgen \( F_x\not=0 \) oder \( F_y\not=0. \) Ist etwa
\[ F_y(\xi,\eta)\not=0, \]
  so existiert eine Umgebung \( U\subset\mathbb R^2, \) in welcher \( F(x,y)=\alpha \) nach \( y=y(x) \) auflösbar ist. Anschließende Differentiation nach \( x \) bringt
\[ F_x+F_yy'=g+hy'=0. \]

 

Damit schließen wir unsere Beweisidee ab.\( \qquad\Box \)

 


 

 

 

23.1.5 Wiederholungsfragen

 

1. Wie schreiben wir Differentialgleichungen als Differentialform?
2. Was versteht man unter einer exakten Differentialgleichung?
3. Was besagt der Existenzsatz aus Paragraph 23.1.4?

 


 

23.2 Integrabilitätsbedingung und Eulerscher Multiplikator

 

23.2.1 Eine Integrabilitätsbedingung

 

Auch für das nun Folgende verweisen wir auf F. Sauvignys Lehrbuch zur Analysis. Wir nehmen dabei bereits ein Resultat über Differentialformen aus der Vorlesung Analysis 3 voraus.

 

Satz: Es sei \( D\subseteq\mathbb R^2 \) offen und einfach zusammenhängend. Sind \( g,h\in C^1(D,\mathbb R), \) so existiert eine Stammfunktion \( F\in C^2(D,\mathbb R) \) der Gleichung \[ g(x,y)\,dx+h(x,y)\,dy=0\quad\mbox{in}\ D \] mit den charakteristischen Eigenschaften \[ F_x(x,y)=g(x,y),\quad F_y(x,y)=h(x,y) \quad\mbox{in}\ D \] genau dann, wenn folgende Integrabilitätsbedingung erfüllt sind\[ g_y(x,y)=h_x(x,y)\quad\mbox{in}\ D. \]

 

Beweis

 

Es sei \( (\xi,\eta)\in D, \) und es sei \[ R:=\{(x,y)\in D\,:\,x\in(\xi-\alpha,\xi+\alpha),\ y\in(\eta-\beta,\eta+\beta)\}\subset D \] ein Rechteck mit den Seitenlängen \( 2\alpha \) und \( 2\beta. \) Wir zeigen die Behauptung nur lokal im Rechteck \( R. \)
(i) Die Differentialgleichung sei in \( D \) und damit in \( R \) exakt. Dann existiert ein \( F\in C^2(R,\mathbb R) \) mit \( F_x=g \) und \( F_y=h \) in \( R. \) Es folgen nach nochmaligem Differenzieren
\[ F_{yx}=h_x\,,\quad F_{xy}=g_y \quad\mbox{in}\ R, \]
  und wegen \( F_{xy}=F_{yx} \) nach dem Satz von Schwarz folgt die eine Behauptung
\[ h_x=g_y\quad\mbox{in}\ R. \]
(ii) Es gelte nun \( h_x=g_y \) in \( R. \) Wir setzen (skizzieren Sie sich diese Situation)
\[ F(x,y):=\int\limits_\xi^xg(t,\eta)\,dt+\int\limits_\eta^yh(x,t)\,dt,\quad(x,y)\in R. \]
  Differentiation liefert nach dem Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung
\[ F_x=g(x,\eta)+\frac{d}{dx}\,\int\limits_\eta^yh(x,t)\,dt. \]
  Die Ableitung auf der rechten Seite berechnen wir wie folgt: Zunächst ist
\[ \frac{d}{dx}\,\int\limits_\eta^yh(x,t)\,dt =\lim_{\varepsilon\to 0}\frac{1}{\varepsilon}\,\int\limits_\eta^y\big\{h(x+\varepsilon,t)-h(x,t)\big\}\,dt. \]
  Nach dem Mittelwertsatz existiert für jedes \( t\in[\eta,y] \) ein \( \varepsilon_t\in[0,\varepsilon] \) mit
\[ \frac{h(x+\varepsilon,t)-h(x,t)}{\varepsilon}=h_x(x+\varepsilon_t,t),\quad\varepsilon\gt 0. \]
  Das setzen wir in vorigen Grenzwert ein und erhalten
\[ \begin{array}{lll} \displaystyle \frac{d}{dx}\,\int\limits_\eta^yh(x,t)\,dt\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \lim_{\varepsilon\to 0}\int\limits_\eta^y\frac{h(x+\varepsilon,t)-h(x,t)}{\varepsilon}\,dt \\ & = & \negthickspace\displaystyle \lim_{\varepsilon\to 0}\int\limits_\eta^yh_x(x+\varepsilon_t,t)\,dt \,=\,\int\limits_\eta^yh_x(x,t)\,dt \end{array} \]
  unter Beachtung von \( h_x\in C^0(D,\mathbb R). \) Damit kommen wir zur Berechnung von \( F_x(x,y) \) zurück: Die Integrabilitätsbedingung liefert
\[ \begin{array}{lll} F_x\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle g(x,\eta)+\int\limits_\eta^yh_x(x,t)\,dt \,=\,g(x,\eta)+\int\limits_\eta^yg_y(x,t)\,dt \\ & = & \negthickspace\displaystyle g(x,\eta)+\big\{g(x,y)-g(x,\eta)\big\} \,=\,g(x,y). \end{array} \]
  Entsprechend zeigt man \( F_y=h \) in \( R, \) d.h. \( (g,h) \) ist ein Gradientenfeld mit Stammfunktion \( F(x,y). \)

 

Damit ist alles gezeigt.\( \qquad\Box \)

 

 

Aufgabe 1: (Exakte Gleichungen und Integrabilitätsbedingung I)

Betrachten Sie die Differentialgleichung \[ 2x\,dx+2y\,dy=0\quad\mbox{in}\ \mathbb R^2\,. \]

(i) Begründen Sie unter Verwendung der Integrabilitätsbedingung, dass die Gleichung exakt in \( \mathbb R^2 \) ist.
(ii) Verifizieren Sie, dass

\[ F(x,y)=x^2+y^2\,,\quad(x,y)\in\mathbb R^2\,, \]

  eine Stammfunktion der Gleichung ist.
(iii) Bestimmen Sie die durch \( (x,y)=(0,1) \) verlaufende Lösungskurve der Lösungsschar

\[ F(x,y)=\mbox{const} \]

  Interpretieren Sie die Lösung geometrisch.

 

Lösung

 

Es sind \( g(x,y)=2x \) und \( h(x,y)=2y. \)

(i) Wir berechnen

\[ g_y=0,\quad h_x=0, \]

  und damit gilt die Integrabilitätsbedingung \( g_y=h_x. \)
(ii) Wir berechnen

\[ F_x=2x,\quad F_y=2y \]

  und damit \( F_x=g \) und \( F_y=h. \) Also ist \( F(x,y) \) eine Stammfunktion.
(iii) Wir bestimmen die Integrationskonstante \( C\in\mathbb R \) in \( F(0,1)=C, \) genauer

\[ C=F(0,1)=x^2+y^2\,\Big|_{(x,y)=(0,1)}=1,\quad \mbox{d.h.}\quad C=1. \]

  Die durch \( (0,1)\in\mathbb R^2 \) verlaufende Lösungskurve ist also

\[ x^2+y^2=1. \]

  Es handelt sich um einen Einheitskreis vom Radius \( 1. \)

 

Damit ist alles gezeigt.\( \qquad\Box \)

 

 

Aufgabe 2: (Exakte Gleichungen und Integrabilitätsbedingung II)

Betrachten Sie die Differentialgleichung \[ (2x+4y+2)\,dx+(4x+12y+8)\,dy=0\quad\mbox{in}\ \mathbb R^2\,. \]

(i) Begründen Sie unter Verwendung der Integrabilitätsbedingung, dass die Gleichung exakt in \( \mathbb R^2 \) ist.
(ii) Verifizieren Sie, dass

\[ F(x,y)=x^2+4xy+2x+6y^2+8y,\quad(x,y)\in\mathbb R^2\,, \]

  eine Stammfunktion der Gleichung ist.
(iii) Bestimmen Sie die durch \( (x,y)=(0,-1) \) verlaufende Lösungskurve der Lösungsschar

\[ F(x,y)=\mbox{const} \]

  Interpretieren Sie die Lösung geometrisch.

 

Lösung

 

Es sind \( g(x,y)=2x+4y+2 \) und \( h(x,y)=4x+12y+8. \)

(i) Wir berechnen

\[ g_y=4,\quad h_x=4, \]

  und damit gilt die Integrabilitätsbedingung \( g_y=h_x. \)
(ii) Wir berechnen

\[ F_x=2x+4y+2,\quad F_y=4x+12y+8 \]

  und damit \( F_x=g \) und \( F_y=h. \) Also ist \( F(x,y) \) eine Stammfunktion.
(iii) Wir bestimmen die Integrationskonstante \( C\in\mathbb R \) in \( F(0,-1)=C, \) genauer

\[ C=F(0,-1)=x^2+4xy+6y^2+8y\,\Big|_{(x,y)=(0,-1)}=6-8=-2,\quad \mbox{d.h.}\quad C=-2. \]

  Die durch \( (0,-1)\in\mathbb R^2 \) verlaufende Lösungskurve ist also

\[ x^2+4xy+6y^2+8y=-2 \quad\mbox{bzw.}\quad (x+2y+1)^2+2(y+1)^2=1. \]

  Es handelt sich um eine Ellipse.

 

Damit ist alles gezeigt.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

23.2.2 Praktische Bestimmung einer Stammfunktion

 

Wie finden wir ein \( F(x,y) \) mit den Eigenschaften \[ F_x(x,y)=g(x,y),\quad F_y(x,y)=h(x,y)? \]

\( \circ \) Eventuell ist beispielsweise \( g(x,y) \) vermittels bekannter Rechenregeln nach \( x \) integrierbar. Das Integral besitzt dann eine Funktion \( C(y) \) als „Integrationskonstante“, welche sich aus \( F_y=h \) bestimmen lassen wird.
\( \circ \) Nach obigem Beweis ergibt sich eine Stammfunktion aus den dort angegebenen Integralen oder eventuell allgemeiner als Wegintegral

\[ F(x,y)=\int\limits_{(\xi,\eta)}^{(x,y)}\big\{g(s,t)\,dt+h(s,t)\,dt\big\}\,. \]

  Wegintegrale werden wir detailliert in der Analysis 3 diskutieren.

 

Aufgabe 1: (Bestimmen von Stammfunktionen)

Betrachten Sie die Differentialgleichung \[ (6x-7y+2)\,dx-(7x-2y+1)\,dy=0\quad\mbox{in}\ \mathbb R^2\,. \]

(i) Begründen Sie, dass die Gleichung exakt ist.
(ii) Geben Sie eine Stammfunktion \( F(x,y) \) an.

 

Lösung

 

Es sind \( g(x,y)=6x-7y+2 \) und \( h(x,y)=-7x+2y-1. \)

(i) Wir berechnen

\[ g_y=-7,\quad h_x=-7, \]

  d.h. es ist die Integrabilitätsbedingung \( g_y=h_x \) in \( \mathbb R^2 \) erfüllt. Es existiert also eine Stammfunktion, und die Gleichung ist in \( \mathbb R^2 \) exakt.
(ii) Eine Stammfunktion \( F(x,y) \) genügt

\[ F_x=g=6x-7y+2,\quad F_y=h=-7x+2y-1. \]

  Wir integrieren \( F_x \) nach \( x \) und erhalten mit einer von \( y \) abhängigen Integrationskonstanten \( C(y) \)

\[ F(x,y)=3x^2-7xy+2x+C(y). \]

  Das wiederum differenzieren wir nach \( y \) und vergleichen mit \( F_y=h, \) genauer

\[ -7x+C'(y)=-7x+2y-1 \quad\mbox{bzw.}\quad C'(y)=2y-1, \]

  also etwa \( C(y)=y^2-y. \) Das setzen wir in obige Darstellung von \( F(x,y) \) und erhalten mit

\[ F(x,y)=3x^2-7xy+2x+y^2-y \]

  eine Stammfunktion der Gleichung.

 

Damit ist alles gezeigt.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

23.2.3 Die Eulersche Multiplikatorregel

 

Zur Lösung exakter Gleichungen \( g\,dx+h\,dy=0 \) haben wir den Begriff der Stammfunktion kennenglernt. Nichtexakte Gleichungen können eventuell durch Multiplikation mit einer Funkion zu exakten Gleichungen werden.

 

Definition: Es seien \( g,h\in C^0(D,\mathbb R) \) stetig. Es heißt \( M(x,y)\not=0 \) ein integrierender Faktor oder Eulerscher Multiplikator der Differentialgleichung \[ g(x,y)\,dx+h(x,y)\,dy=0\quad\mbox{in}\ D, \] wenn die neue Gleichung \[ M(x,y)g(x,y)\,dx+M(x,y)h(x,y)\,dy=0 \] exakt in \( D\subseteq\mathbb R^2 \) ist.

 

Der folgende Satz ist ein unmittelbares Resultat obiger Integrabilitätsbedingung. Einen Beweis belassen wir als Übung.

 

Satz: Es sei \( D\subseteq\mathbb R^2 \) offen und einfach zusammenhängend, und es seien \( g,h\in C^1(D,\mathbb R). \) Dann ist \( M(x,y) \) genau dann ein Eulerscher Multiplikator, wenn gilt \[ \begin{array}{l} (Mg)_y=(Mh)_x\quad\mbox{bzw.} \\ M_yg+Mg_y=M_xh+Mh_x\quad\mbox{in}\ D. \end{array} \]

 

Zum Auffinden eines Eulerschen Multiplikators ist also eine partielle Differentialgleichung zu lösen. Folgende hinreichende Existenzbedingung finden wir im Lehrbuch von F. Sauvigny.

 

Satz: In einer Umgebung \( U\subset D\subseteq\mathbb R^2 \) des Punktes \( (\xi,\eta)\in\mathbb R^2 \) seien \( g,h\in C^2(U,\mathbb R). \) Es gelte \[ g(x,y)^2+h(x,y)^2\gt 0\quad\mbox{in}\ U. \] Dann gibt es eine Umgebung \( V\subset U \) von \( (\xi,\eta), \) hierin ein \( F\in C^2(V,\mathbb R) \) sowie einen Eulerschen Multiplikator \( M\in C^2(V,\mathbb R\setminus\{0\}), \) so dass richtig sind \[ F_x=Mg,\quad F_y=Mh\quad\mbox{in}\ V. \] In der Umgebung \( V\subset U \) ist die Gleichung \( Mg\,dx+Mh\,dy=0 \) also exakt.

 

Aufgabe 1: (Ein spezieller Eulermultiplikator)

(i) Zeigen Sie: Ist \( M(x,y), \) wie in der Vorlesung, ein Eulerscher Multiplikator, der aber nur von \( y \) abhängt, so ist

\[ \frac{M'}{M}=\frac{h_x-g_y}{g}\,,\quad g\not=0. \]

(ii) Finden Sie einen solchen Multiplikator zur Gleichung

\[ y\,dx+(2xy^2+x)\,dy=0,\quad y\gt 0, \]

  und lösen Sie diese Gleichung (eventuell auch nur implizit).

 

Lösung

 

(i) Hängt \( M(x,y) \) nur von \( y \) ab, so gilt

\[ M'g+Mg_y=Mh_x \quad\mbox{bzw.}\quad \frac{M'}{M}=\frac{h_x-g_y}{g}\,,\quad g\not=0. \]

(ii) Es sind \( g(x,y)=y \) und \( h(x,y)=2xy^2+x, \) also

\[ g_y=1,\quad h_x=2y^2+1 \]

  und damit \( g_y\not=h_x, \) d.h. die Gleichung ist nicht exakt. Angenommen, mit \( M(y) \) liege ein nur von \( y \) abhängiger Eulerscher Multiplikator vor. Dieser erfüllt

\[ \frac{M'(y)}{M(y)}=\frac{h_x-g_y}{g}=\frac{2y^2+1-1}{y}=\frac{2y^2}{y}=2y,\quad y\gt 0, \]

  und damit nach Umstellen

\[ M'(y)=2yM(y) \quad\mbox{bzw.}\quad M(y)=e^{y^2}\,,\quad y\gt 0. \]

  Die neue Gleichung

\[ ye^{y^2}\,dx+(2xy^2+x)e^{y^2}\,dy=0,\quad y\gt 0, \]

  ist in \( \{(x,y)\in\mathbb R^2\,:\,y\gt 0\} \) exakt, wie man leicht nachprüft. Es existiert dort also eine Stammfunktion \( F(x,y) \) mit

\[ F_x=ye^{y^2}\,,\quad F_y=(2xy^2+x)e^{y^2}\,. \]

  Wir integrieren die erste Gleichung nach \( x \) und erhalten

\[ F=xye^{y^2}+C(y) \]

  mit einer von \( y \) abhängigen Integrationskonstanten \( C(y). \) Ableiten nach \( y \) bringt wiederum

\[ F_y=xe^{y^2}+2xy^2e^{y^2}+C'(y)=(2xy^2+x)e^{y^2} \quad\mbox{bzw.}\quad C'(y)=0. \]

  Wir wählen \( C=0 \) und erhalten als eine Stammfunktion

\[ F(x,y)=xye^{y^2}\,. \]

  Die ursprüngliche Gleichung wird also gelöst von

\[ xye^{y^2}=C,\quad C\in\mathbb R. \]